„Die Stasi, Orwell und ich“ ist ein fesselndes Zeitzeugnis über die Bedeutung von Meinungsfreiheit, Vertrauen und Widerstand gegen Unterdrückung. Es ist eine Mahnung an die junge Generation, die in einer freien Gesellschaft aufwächst, und eine Erinnerung daran, wie zerbrechlich diese Freiheit sein kann.
Bernd Lippmanns Lebensweg zeigt: Es lohnt sich, für die Wahrheit zu kämpfen – auch wenn der Weg steinig ist.
In der DDR (1949-1990) wurden Menschen, die kritische Bücher lasen, besaßen oder verbreiteten, systematisch überwacht, verfolgt und oft hart bestraft.
Die SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) betrachtete kritische Literatur als Bedrohung für das Regime, da sie die Staatsideologie in Frage stellen und oppositionelles Denken fördern konnte.
Kritische Bücher, die nicht der offiziellen Linie entsprachen, wurden als „staatsfeindlich“ eingestuft und bei Hausdurchsuchungen beschlagnahmt.
Das Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) überwachte systematisch Personen, die im Verdacht standen, kritische Literatur zu besitzen oder zu verbreiten. Dabei stützte sich die Stasi auf ein Netz von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM), die verdeckt in der Bevölkerung agierten. Verdächtige Personen wurden oft überraschend durchsucht. Wurden verbotene Bücher gefunden, konnten diese als Beweismittel in Strafverfahren verwendet werden.
Wer kritische Bücher besaß oder verbreitete, konnte wegen „staatsfeindlicher Hetze“ (§ 106 StGB-DDR) angeklagt werden. Dies führte häufig zu hohen Haftstrafen. Ein solches Buch wie George Orwells Roman „1984“ spielt auch nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 eine wichtige Rolle in der politischen und gesellschaftlichen Diskussion über Meinungsfreiheit, Überwachung und staatliche Kontrolle.
Obwohl das Werk bereits 1949 veröffentlicht wurde, ist es nach wie vor ein wichtiger Bezugspunkt für die kritische Auseinandersetzung mit autoritären Tendenzen und der Bedrohung individueller Freiheiten.
Orwells dystopische Vision eines totalitären Staates, der die Meinungsfreiheit durch Überwachung (z.B „Großer Bruder“) und Gedankenkontrolle unterdrückt, ist nach wie vor ein mahnendes Symbol. Es dient als Warnung vor den Gefahren autoritärer Systeme und als Aufruf zum Schutz demokratischer Werte und individueller Freiheiten.
Der Autor über sein Buch:
Die Lektüre derartig faszinierender, aber vom SED-Staat verteufelter Bücher hat mein Leben nachhaltig verändert. Das ist der Grund, warum ich diese Umstände dokumentieren möchte. Meine Freunde und Haftkameraden Peter „Lemmi“ Lehmann und Dieter Drescher (1941-2023) schrieben „Kleine Geschichten“ aus ihrem Leben und Erleben. Das hat mich inspiriert, es ihnen gleichzutun. Dieter hat mich zusätzlich angespornt. Er fand einiges interessant, was ich erlebt habe, was mir passiert ist, was ich geschehen ließ.
In einigen Fällen habe ich Namen geändert, weil ich nicht mit den Personen sprechen konnte und deshalb nicht wusste, ob sie mit der Nennung ihres Namens einverstanden wären. Spitzel der Geheimpolizei Stasi habe ich grundsätzlich mit ihrem vom MfS vergebenen Decknamen benannt. Da diese Personen bei aller Ablehnung ihres schändlichen Tuns sehr unterschiedlich zu bewerten sind, erscheint mir dies sinnvoll.
Das Buch besteht im wesentlichen aus vier Bestandteilen: Kindheit und Jugend, Studium, Haft und Aufarbeitung und mein Leben als Pädagoge.
Bernd Lippmann
Interview im Stasimuseum Berlin mit Bernd und Iris Lippmann, 2016
Ausstellung über ehemalige politische Häftlinge in der DDR, 2025
Die Bundestagspräsidentin Julia Klöckner hat am 9. April 2025 eine Ausstellung über ehemalige politische Häftlinge in der DDR im Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestages eröffnet. Zum Start der Schau mit Bildern des Fotografen André Wagenzik führte sie aus:
„Den Blicken der 100 Augenpaare, die auf den Portraits die Besucher ansehen, kann man nicht ausweichen. Sie stehen stellvertretend für die vielen Menschen, die aus politischen Gründen von der Staatssicherheit der DDR inhaftiert wurden. Menschen, die in der DDR unter Einsatz ihrer eigenen Freiheiten für die Grundlagen unserer Demokratie gekämpft haben. Deshalb gehört diese Ausstellung hierher, in den Deutschen Bundestag, in das Herz unserer Demokratie!“

Unser Autor Bernd Lippmann ist einer der ausgewählten 100 Häftlinge der Stasi.


Zu Gast im Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis e. V.

Buchlesung mit Stephan Krawczyk (Gitarre und Gesang) und Bernd Lippmann

Am 17. Juni 2025 las Stephan Krawczyk aus dem Buch von Bernd Lippmann „Die Stasi, Orwell und ich“ im Stasimuseum Berlin. Anschließend fanden Gespräche statt.
Bernd Lippmann, die Literatur und der ‚Große Bruder‘ – Vom ‚staatsfeindlichen Hetzer‘ zum Streiter für die Freiheit
Rezension zu:
Bernd Lippmann: Die Stasi, Orwell und Ich – Vom Häftling zum Kämpfer für die Wahrheit,
2025
von Eugen Wenzel
Mag Heinrich Heine darin recht haben, dass unter jedem Grabstein eine Weltgeschichte begraben liege, so ist dennoch nicht jede dieser Geschichten dermaßen interessant und beachtenswert, dass sie unbedingt erzählt werden muss. Letzteres kann kaum bezüglich der Memoiren Bernd Lippmanns behauptet werden, der zum Glück den Stimmen seiner Freunde und ehemaliger Haftkameraden gefolgt ist und seine Lebenserinnerungen endlich zu Papier gebracht hat.
Seine Geschichte sticht nämlich in vielerlei Hinsicht hervor und sie endet keinesfalls mit seinem glücklichen Freikauf aus der DDR-Haft durch die Bundesrepublik Deutschland:
Dieses Ereignis bildet eine Zäsur in seinem bewegten Lebenslauf, die einen tiefgreifenden Wandel von einem Häftling des SED-Staates zu einem Streiter für die Wahrheit markiert, dessen zu einer Lebensaufgabe gewordener Kampf gegen totalitäre Machtstrukturen nicht minder lehrreich ist als seine Ausführungen zu den Verhältnissen und Ursachen, die zu seiner Inhaftierung durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) geführt haben.
„Was ist Wahrheit?“, ist schon Jesus von Nazareth von Pontius Pilatus gefragt worden. Friedrich Nietzsches berühmte Antwort auf diese alles entscheidende Frage der Epistemologie lautet bekanntlich, Wahrheiten seien Illusionen, von denen die Menschen vergessen hätten, dass sie welche seien.
An diese wichtige Einsicht schließt sich seine nicht weniger bedeutsame und weitreichende Beobachtung an, dass derjenige, der sich im Besitz der absoluten Wahrheit wähne, nur allzu leicht eine tyrannische Ader entwickle. Auf dieser Folie verlohnt es sich, die Memoiren Lippmanns von ihrem Ende her zu lesen.
In seinem Nachwort kommt ihr Verfasser über Denker wie Niels Bohr, Karl Raimund Popper und Rudolf Carnap zu derselben Erkenntnis wie sein sächsischer Landmann, dass „die absolute Wahrheit selbst in der Mathematik ein ideelles Konstrukt“ (S. 198) sei. Ebenfalls in vollkommener Übereinstimmung mit Nietzsche setzt er fort: „Leider hat sich das noch nicht überall auf der Welt herumgesprochen. Mit dem vor allem ideologisch oder religiös geprägten Wahrheitsanspruch werden Menschen getötet, vertrieben, ihrer Chancen auf ein friedliches Leben beraubt. Erkenntnis ist immer hypothetisch.
Wer dies anders sieht, ist geneigt, seinen Anspruch ohne Legitimation durchzusetzen“ (ebd.), so beispielsweise das SED-Regime mit seinem marxistisch-leninistischen Wahrheitsbegriff und seinem verlängerten Arm, dem MfS, welches die Gewalt als ein vollauf legitimes Mittel zur Durchsetzung seiner Zwecke betrachtete.
Lippmanns Kampf ist also ein Streiten für die einzige unverrückbare Wahrheit, dass es für den Menschen aufgrund der unveränderlichen Beschaffenheit seines Erkenntnisapparats keine allgemein gültigen Wahrheiten gibt, woraus die alleinige logische Schlussfolgerung für das gesellschaftliche Miteinander die Toleranz im Denken sein kann, das heißt die staatlich verbürgte Freiheit im Denken und der ungehinderte Zugang aller Menschen zu Informationsquellen, welche ein solches Denken überhaupt erst ermöglichen.
Anders formuliert, geht es Lippmann um die Verteidigung von Rechten, derer der Mensch problemlos und jederzeit verlustig gehen kann, was wiederum das lebenslange und unermüdliche Eintreten Lippmanns für eine freiheitlich verfasste Gesellschaftsordnung erklärt.
Aus diesem Grunde sind seine Memoiren nicht wie so häufig irgendwelche Exkuplationen, Zurechtbiegungen, Glättungen oder gar verklärende Selbstheroisierungen, sondern eine wertvolle geistige Unterstützung der Nachgeborenen im nie endenden Kampf gegen gesellschaftliche Tendenzen und Phänomene, die mit allen Mitteln die freie Entwicklung des Menschen zu untergraben suchen.
Das Diktum Hannah Arendts, der Sinn der Politik sei Freiheit, kann somit dem gesamten und überaus umfangreichen gesellschaftlichen, schriftstellerischen und pädagogischen Engagement Lippmanns als ein Motto vorangestellt werden, einem Einsatz, der seitens der staatlichen Institutionen der Bundesrepublik Deutschland vollauf zurecht mit dem Bundesverdienstkreuz gewürdigt worden ist.
In seinem Lebensrückblick bekennt Dmitrij Schostakowitsch, dass er beim Lesen von Biographien den Passus mit der Kindheit für gewöhnlich überspringe, da sich darin selten etwas wirklich Wesentliches finde.
Lippmann erspart dem Leser solche Sprünge, indem er nicht dem ironisch gemeinten Ratschlag Kurt Tucholskys an den ‚guten‘ Redner folgt, er solle am besten stets bei den alten Römern beginnen.
Die Geschehnisse aus seiner Kindheit und Jugend, die Lippmann zur Sprache bringt, sind beinahe ausschließlich solche, die dem Zweck dienen, verständlich werden zu lassen, wie es dazu kam, dass er als ein Kind aus der DDR ein tiefes Bedürfnis nach Freiheit entwickelte, in eine oppositionelle Haltung zum real existierenden Sozialismus geriet und „vom SED-Staat verteufelte[] Bücher“, zum Beispiel George Orwells und Alexander Solschenizyns, zu lesen anfing, die sein „Leben nachhaltig verändert“ (S. 10) und schlussendlich 1974 zu einer Denunziation, zur Verhaftung des damals gerade einmal 22-jährigen‚ staatsfeindlichen Hetzers‘ (so der offizielle MfS-Jargon) und zu einer dreijährigen Haftstrafe in Cottbus geführt haben.
Aber auch ansonsten bleibt Lippmann klar bei dem roten Faden, den er mit der Überschrift seines Buches vorgibt, so dass der Leser zwischen den beiden Buchdeckeln tatsächlich das vorfindet, was ihm der Titel verspricht.
Die Überschrift verheißt, so könnte weiter ausgeführt werden, eine schwere Kost, was sich zu einer Einsicht in Beziehung setzen lässt, welche Oscar Wilde in De profundis entfaltet.
In dieser Reflexion über seine eigene Einkerkerung drückt der irische Schriftsteller den Gedanken aus, dass eine Haftanstalt erst dann den Sieg über den Inhaftierten davontrage, wenn der Gefangene am Ende der Haftzeit verbittert ins Leben zurückkehre, wenn er also nicht länger zu einem normalen Verhältnis zu seiner Umwelt zurück finden könne. Sich davor zu verwahren, ist ungemein schwer, und so haftet nicht selten den schriftlich festgehaltenen Erinnerungen ehemaliger Häftlinge ein Ton der Bitterkeit an.
Dies ist vollauf verständlich und kann nicht zu einem Vorwurf an die Verfasser solcher Retrospektiven erhoben werden, erschwert jedoch zusätzlich die ohnehin schon nicht leichte Lektüre.
Im Falle Lippmanns liegt ein solches Phänomen erfreulicherweise nicht vor. Das MfS, der ‚Große Bruder‘, um es mit Orwell zu formulieren, hat es nicht vermocht, diesem Mann seinen feinen Sinn für Humor zu nehmen. Dieser scheint in Lippmanns Text überall durch, sei es in Form einzelner humorvoller Einstreusel und Kommentare, sei es in Gestalt ganzer oft beinahe schon anekdotenhafter und zum Schmunzeln oder gar Lachen einladender Passagen, die die Lektüre auflockern, ohne dabei – was das Wichtigste ist – den Gegenstand des Buches seiner Ernsthaftigkeit zu berauben.
Aber auch eine andere Funktion des Humoristischen tritt in Lippmanns Schreiben und Handeln klar zu tage, nämlich die Fähigkeit des Humors, die Absurdität der Haltung des Gegenübers in aller Deutlichkeit bloßzustellen.
Bezeichnend ist hier zum Beispiel die Reaktion Lippmanns auf die stolzgeblähte Äußerung einer südafrikanischen Geheimdienstlerin, der Ostblock war zum Zeitpunkt der Unterhaltung schon längst in sich zusammengebrochen, dass sie „in Moskau Internationale Beziehungen studiert“ hätte, denn er erwiderte darauf, was die Unbelehrbare sofort zu gehen zwang, dass er „in Cottbus ein Studium der Psychologie absolviert“ (S. 165) hätte.
Ähnlich schlagkräftig war auch sein humorvoller Lehrsatz, welchen er im Rahmen seiner Lehrtätigkeit im Philosophieunterricht an einem West-Berliner Gymnasium aufstellte und mit dessen Hilfe der leidenschaftliche Leser von Orwells Animal Farm die Absurdität der sozialistischen Wirtschaftsphilosophie auf die Spitze trieb: „Wer zwei Kühe hat, gebe eine dem, der nur eine hat. Damit der auch zwei hat“ (S. 156).
Ein anderes Indiz dafür, dass es der SED-Diktatur nicht gelungen ist, bei Lippmann eine Verbitterung zu zeitigen, ist seine Differenziertheit beispielsweise bei der Beurteilung von Menschen, die mit dem MfS kollaboriert haben: Lippmann ist sich dessen vollkommen bewusst, dass „die Stasi-Haft psychologisch extrem“ war, „so dass die Bewertung der Spitzeltätigkeit [von Inhaftierten] anders ausfallen kann als in einer zivilen Situation“ (S. 74). Eine solche Haltung führt unweigerlich zu einer umsichtigen, soll heißen: im Wesentlichen wissenschaftlich orientierten Darstellungsweise, die den Wert der hier vorgestellten Erinnerungen ungemein steigert.
Die differenzierte Betrachtungsart Lippmanns artikuliert sich aber auch etwa in seiner tiefen Einsicht, dass selbst noch die schrecklichsten Momente Positives in sich zu bergen vermögen. So kommt er immer wieder auf ehemalige Mitgefangene zu sprechen, die sich in den dunkelsten Stunden ihres Daseins von ihrer menschlichsten Seite gezeigt haben und auf diesem Wege zu echten Freunden geworden sind, woraus Lippmann den Schluss zieht: „Ohne die Haft hätte ich diese wertvollen Menschen nie kennengelernt. Das nenne ich Kollateralnutzen“ (S. 76).
Auch an dieser Stelle ist ein kurzer Seitenblick auf Schostakowitsch durchaus empfehlenswert, der wie Lippmann unter dem stalinistischen Weltbild zu leiden hatte. Der größte Symphoniker des 20. Jahrhunderts lebte in einer Zeit, wo Menschen täglich spurlos aus dem Leben ihrer Mitmenschen verschwanden. Den Zurückgebliebenen blieb um des eigenen Überlebens willen zumeist kaum etwas anderes übrig, als die Erinnerung an sie gänzlich auszulöschen: Photographien, Briefe, Tagebücher, kurzum: alle möglichen Erinnerungsquellen fielen ebenso der Vernichtung anheim wie die Menschen selbst, an die sie gemahnten.
Um diese Opfer des stalinistischen Terrors zumindest vor dem gänzlichen Vergessen zu bewahren, entschloss sich Schostakowitsch, seine Memoiren zu diktieren, präziser: seine Erinnerungen an die von Stalin Ermordeten schriftlich zu fixieren.
Die Übersetzerin Swetlana Geier, die sich vor allem mit ihren Dostojewskij-Übertragungen einen Namen in Deutschland erarbeitet hat, hat einmal festgehalten, dass im Stalinismus ein Bild mit einem viereckigen Ei für den Maler den GULag bedeutet habe. Später habe sich dann keiner mehr an solchen Zeichnungen und Gemälden gestoßen, jedoch nicht, weil sich das politische System zwischenzeitlich gewandelt habe, sondern weil die Menschen solchen Gegenständen gegenüber gleichgültig geworden seien.
Eine zunehmende Gleichgültigkeit in Bezug auf diejenigen, die dem ostdeutschen Unrechtsstaat die Stirn geboten haben, ist auch in der heutigen bundesdeutschen Gesellschaft zu konstatieren, was mit anderen Worten das Versinken dieser Menschen in der Vergessenheit bedeutet.
Als ein umso größerer Verdienst ist daher der Sachverhalt zu werten, dass Lippmann in seinen Memoiren einer ganzen Reihe solcher Menschen in Form von Kurzportraits ein Denkmal gesetzt hat.
So finden sich bei ihm in unmittelbarer Nachbarschaft mit Schilderungen seiner Kontakte zu Menschen wie Carl-Friedrich von Weizsäcker, Hans-Dietrich Genscher und Ralph Giordano auch prägnante und von tiefer Wertschätzung getragene Lebensläufe einiger seiner Zeitgenossen, die weniger bekannt sind als die soeben Genannten, es aufgrund ihres Kampfes für die anständige Sache jedoch nicht weniger als diese verdienen, dass auch ihrer gedacht wird.
Auffällig ist bei diesen Portraits, wie bei allen anderen Ausführungen Lippmanns auch, dass er dabei kaum moralisiert, was bei einem Thema wie dem MfS und bei einem Angehörigen des Lehrerstandes, welchem Lippmann über drei Dekaden hinweg angehört hat, nur allzu leicht passieren kann.
Lippmann erzählt, indem er sachlich und vollkommen unprätentiös berichtet, und erzielt damit eine viel größere Wirkung, als wenn er sich auf einen moralisierenden Schreibstil versteift hätte. Sein Stil ist auch keiner ‚Begradigung‘ durch ein Lektorat unterworfen worden, so dass er sehr stark an Lippmanns mündlichen Sprachgebrauch angelehnt bleibt und beim Leser dadurch den Eindruck evoziert, als würde er kein Buch in Händen halten, sondern in persona an einem Zeitzeugengespräch teilnehmen.
Nichtsdestotrotz ist die Frage überaus berechtigt, ob nicht ein behutsames Intervenieren eines Lektors an dieser oder jener Stelle die unanfechtbare Qualität des Buches noch zusätzlich gesteigert hätte. Dies bezieht sich nicht so sehr zum Beispiel auf das verbesserungswürdige Layout, als vielmehr zum einen auf die Textstellen, wo sich Lippmann zu sehr in Details vertieft oder etwas zu voraussetzungsreich formuliert und damit nicht nur die jungen Leser abhängt, sondern auch dem interessierten Laien das Folgen unnötig erschwert. Zum anderen auf solche Passagen, wo der Leser um des besseren Verständnisses willen die eine oder andere zusätzliche Information oder leichte Straffung durchaus benötigt hätte.
Etwas bedauerlich ist ebenfalls der Umstand, dass Lippmann nicht allen beachtenswerten und unbedingt hervorzuhebenden Momenten seines außergewöhnlichen Lebenslaufs hinreichend Platz einräumt. Zu denken ist da vor allem an die Pläne des MfS, den gegen die DDR in West-Berlin mit aller Kraft arbeitenden Lippmann ins Ausland zu locken, dort zu entführen und anschließend vielleicht sogar zu liquidieren.
An solchen Stellen wäre sicherlich auch zumindest ein kurzer Einblick in die Gefühlswelt des Autors dem Buch überaus dienlich gewesen. Was geht beispielsweise in einem Menschen vor, wenn er wie Lippmann Phasen durchleben muss, wo er nicht ins Auto steigen kann, ohne sich zuvor vergewissert zu haben, dass sich keine Bombe unter dem Fahrzeug befindet? Bei solchen Fragen bleibt Lippmann zu sehr Wissenschaftler, der von sich abstrahiert und sachlich seinen Untersuchungsgegenstand betrachtet.
Aber auch ohne solche Vertiefungen streicht der Text in aller Deutlichkeit die Bedeutung der Freiheit für den Menschen hervor, um die es ihm im Wesentlichen geht und die zum Beispiel Wassilij Grossman in seinem epochalen Stalingrad- und Lager-Roman Leben und Schicksal treffend mit der Formulierung auf den Punkt gebracht hat, die Freiheit zu verlieren sei dasselbe, wie seine Gesundheit einzubüßen.
Diese Einsicht wachzuhalten, ist zwingend erforderlich, da die in der Regel überaus folgenreiche Fahrlässigkeit im Umgang mit der Freiheit offensichtlich zur Conditio humana dazuzugehören scheint. Die hier vorgestellten Erinnerungen erfüllen vollauf diesen Zweck und dafür gebührt dem Verfasser dieses Buches ein aufrichtiger und herzlicher Dank.
Dr. phil. Eugen Wenzel, A.d.L. (geb. 1984) – studierte mit einem Studienstipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. von 2004 bis 2009 an der Georg-August-Universität Göttingen Germanistik, Philosophie und Lateinische Philologie. Anschließend Promotion zu dem Thema: Ein neues Lied? Ein besseres Lied? Die neuen »Evangelien« nach Heine, Wagner und Nietzsche (gefördert von der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., dem Richard-Wagner-Verband International e.V. und dem Stadtmuseum Bonn). Von 2014 bis 2016 berufsbegleitendes Referendariat. Seit Juni 2016 vollbeschäftigter Studienassessor an einem Berliner Gymnasium. Parallel dazu diverse Vortrags- und Forschungstätigkeiten im kulturwissenschaftlichen Bereich. Auf dem belletristischen Feld debütierte er 2017 mit der Novelle „Variationen“.
Seit 4/2023 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Chemnitz

